Von 2015 bis 2023 war ich als Ordensschwester der Borromäerinnen in unserer Niederlassung im Deutschen Hospiz St. Charles in Jerusalem eingesetzt. Nach acht Jahren im Heiligen Land bin ich inzwischen nach Deutschland in unser Mutterhaus Kloster Grafschaft umgezogen, um dort eine neue Aufgabe als Generalsekretärin unserer Kongregation zu übernehmen.
Die Zeit in Jerusalem, wo ich als Schwester unsere Kleinen im Kindergarten St. Charles und große Theologiestudenten aus aller Welt unterrichten und die Mitschwestern in unserem Gästehaus unterstützen durfte, war für mich ein großes Geschenk.
Viele fragten mich, ob der Abschied von Jerusalem für mich mit Wehmut verbunden sei.
Wenn ich an die strahlenden Gesichter meiner Mitschwestern, an die Lieder der Kinder im Kindergarten und an die kreativen Ideen der Studierenden denke, dann schwingt schon ein bisschen Wehmut mit.
Viel mehr aber habe ich mich auf den nächsten Schritt auf meinem Lebensweg gefreut und im Gepäck nach Kloster Grafschaft viele wunderbare Orte, Menschen, Begegnungen und 1000 Farben der Sonnenauf- und Sonnenuntergänge mitgenommen.
Natürlich macht man in so einer langen Zeit und an so schönen Orten unendlich viele Fotos. Dank des Handys, das auch Ordensschwestern unterwegs manchmal mit sich tragen, ist das ziemlich unkompliziert geworden.
Eines meiner Lieblingsfotos aus all den Jahren in Jerusalem ist das mit den Tauben und dem Stacheldraht.
Es zeigt keinen der besonderen Orte, die wir mit Jesus Christus verbinden und an denen auch ich gerne verweilte.
Es ist kein gestelltes Bild und war gar nicht geplant.
Es war einfach nur so, dass mich der Augenblick und der Ausblick mit ihrer Schönheit an einem Ort überraschten, an dem ich sonst nur achtlos vorbeiging.
Vielleicht mag ich das Foto deshalb so gerne, weil es aus der Situation heraus entstand und doch so viel über mich persönlich und über die Zeit in Jerusalem aussagt, wie ich es mit Worten oder anderen Bildern nicht schöner ausdrücken könnte.
Auf dem Bild sieht man Tauben hinter einem Stacheldrahtzaun.
Es ist ein lauer Herbstabend im Oktober 2016 in Jerusalem, die Sonne geht langsam unter.
Der Blick geht nach Osten in Richtung Westjordanland, wo hinter den Bergen der Jordan zum Toten Meer fließt und die Grenze zu Jordanien markiert.
Direkt hinter der Mauer und dem Zaun liegt ein verwildertes Grundstück mit Olivenbäumen.
An dieser Stelle in einer Straßenkurve unterhalb des Zionsbergs kommt man vorbei, wenn man außerhalb der Altstadt von der Klagemauer in Richtung St. Charles Hospiz nach Hause geht.
Wir waren damals gerade auf dem Nachhauseweg.
Ein paar Mitschwestern und ich hatten die Ausstellung „Les Colombes – die weißen Tauben“ in der Dormitio-Abtei der Benediktiner besucht, die nur ein paar Minuten entfernt ist.
Der Münchener Künstler Michael Pendry ließ damals in der Kirche einen Monat lang 2.000 weiße Papiertauben unter dem Klang leiser Musik und mit dezenter Lichtshow von der Kirchendecke schweben.
Wir Schwestern waren vom Besuch dieser Installation ganz beeindruckt, beschwingt und vom Geist erfüllt.
Der Berg Zion als Ort des Pfingstgeschehens, für das die Taube bis heute als Symbol des Heiligen Geistes steht, war wie geschaffen für dieses spirituelle Kunstprojekt.
Ein paar Minuten später saßen da diese Tauben in Natura hinter dem Stacheldraht in der unnachahmlichen Live-Lichtshow der untergehenden Sonne.
Ob sie sich wohl ausruhten?
Ob sie vielleicht auch das pastellige Abendlicht und den Blick in die Weite genossen?
Gemeinsam mit ihnen ließen wir Schwestern den Blick in die Ferne schweifen.
Die Tauben haben es leicht, denke ich mir. Sie müssen sich nicht um den Stacheldraht kümmern.
Und all die von uns Menschen gemachten Zäune, Grenzen und Checkpoints sind ihnen sowieso egal.
Sie fliegen einfach darüber hinweg.
So einfach ist das.
So einfach wäre das.
Die fliegende Taube mit einem Ölzweig im Schnabel ist das Symbol des Friedens.
Sie erzählte im Alten Testament schon Noah in seiner Arche vom Frieden und inspirierte Picasso zu seinen Bildern für die Weltfriedenskongresse.
Das passt auch heute.
Wir dürfen sie nur nicht kleinreden und nicht übersehen.