„Vater, ich vergebe dir!“ …. Mit diesem Satz endete der Roman, den ich gerade gelesen habe.
Der Protagonist, der die Worte sprach, sagte diese zu seinem schon vor Jahren verstorbenen Vater. Und da es die letzten Zeilen in diesem Buch sind, vermute ich, dass Midhat, um den es in der Geschichte geht, nun mit sich im Reinen ist und sein Leben endlich so leben kann, wie er es aus dem Moment heraus eben kann und will.
Nach Beendigung seiner Studienzeit im Ausland folgte Midhat dem Willen seins Vaters und kehrte in die Heimat zurück, und damit der Frau, seiner großen Liebe, den Rücken zu.
Er heiratete eine „gute Partie“, bekam vier Kinder mit ihr und passte sich der arabischen Kultur an.
Doch das zermarternde Gefühl, eine falsche Entscheidung getroffen zu haben und irgendwie festzusitzen, ließ ihn nie los. Denn seit seiner Rückkehr haderte er damit, nicht zu seiner großen Liebe gehalten zu haben, sondern dem Willen seines Vaters gefolgt zu sein.
Die Schuld daran gab er vor allem seinem Vater.
Interessant an den letzten Worten ist, dass Midhat sie im Beisein eines Priesters sprach und dieser es so verstanden, dass er angesprochen war („Vater, ich vergebe dir!“).
Denn in seinen Augen hatte auch er sich einer Sache schuldig gemacht, und fühlte sich durch Midhats Worte von dieser Schuld nun befreit. Befreit von einer Schuld, die er sich selber nicht verzeihen konnte.
Ziel ist also bestenfalls immer die Vergebung!
Nicht nur die Schuldzuweisung zu jemand anderem, sondern auch die Schuldgefühle uns selbst gegenüber können uns festhalten und uns lähmen, mit Freude weiterzuleben.
„… und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern …“
Frage dich einmal:
Wer gibt dir Schuld und wen beschuldigst du? Und wem kannst du vergeben und wer sollte dir vergeben?
Vergebung setzt immer eine Schuld voraus bzw. den Glauben, dass jemand Schuld an unserem Zustand hat und ihn verursachte – und gerne nicht man selbst!
Denn es ist einfacher zu glauben, dass das Dilemma, in dem wir sitzen, von jemand anderen verschuldet wurde als durch uns selbst. So ziehen wir uns aus der Verantwortung, können laut jammern und brauchen nichts für eine Verbesserung unserer momentanen Lage zu tun. Denn ich bin ja nicht schuldig.
Falls wir aber doch Opfer einer Schuld geworden sind, stellt sich die Frage, ob der Beschuldigte sich seiner Schuld überhaupt bewusst ist.
Hat er nicht nur aus bestem Wissen und Gewissen gehandelt?
Hat er nicht das für sich Notwendige getan, weil er nach seinen Werten gehandelt hat?
Eine echte Schuldanerkennung setzt also voraus, dass die gleichen Wertvorstellungen vorliegen.
Da wir das aber nie genau wissen und das Verständnis auch nicht immer gegeben ist, ist das Vergeben die beste Möglichkeit, aus seinem Dilemma herauszukommen, um den inneren Frieden zu finden.
Vergeben ist nicht immer einfach. Vor allem dann nicht, wenn wir tiefgehend verletzt oder gekränkt wurden.
Für uns selbst – und für unsere Gesundheit – ist es jedoch enorm wichtig, verzeihen zu können. Tun wir es nicht, kann es uns daran hindern, Geschehenes hinter uns zu lassen und wieder mit voller Kraft nach vorne zu blicken.
Wenn wir einem anderen Menschen oder uns selbst vergeben, kehrt innerer Frieden ein und wir können wieder in der Gegenwart leben.
Nicht zu vergeben ist wie eine unerledigte wichtige Aufgabe, die unsere Aufmerksamkeit immer wieder auf sich zieht: In Gedanken beschäftigen wir uns immer mit der Person, die die vermeintliche Schuld an unserem Leid trägt.
Unser Körper ist dadurch in einem permanenten Alarmzustand.
Durch das Verzeihen erlangen wir eine innere Freiheit.
Wir durchtrennen quasi ein Gummiband, das uns immer wieder in die Vergangenheit zieht, und können uns so wieder auf die Gegenwart konzentrieren.
Es ist eine innerliche Entscheidung, zu verzeihen.
Dabei helfen kann, sich daran zu erinnern, dass Menschen fehlbar sind.
Auch du selbst! Und dass ein weiteres entspanntes Zusammenleben mit diesem bestimmten Menschen nur durch Vergebung möglich wird.
Somit verzeihen wir für unser eigenes seelisches und körperliches Wohlbefinden.
Bildnachweis: Western Wall, copyright Ines Reich, Jerusalem 2022