Immer wenn ich Sätze höre wie: „Hoffentlich muss ich nicht weinen“, „Ich hoffe, ich muss nicht heulen.“ oder „Nicht, dass ich anfange zu weinen.“, frage ich mich, warum das Weinen für viele so eine bedrohliche Reaktion darstellt. Es irritiert mich noch mehr, wenn bei mir die Tränen fließen und jemand versucht, mir zu helfen, als wäre etwas nicht in Ordnung. Manchmal sehe ich dann besorgte Blicke oder höre Sätze wie: „Alles gut, Sven?“, oder jemand nimmt mich sofort in den Arm – als ob es etwas gäbe, das es zu reparieren gilt. Vielleicht sind wir alle unterschiedlich, aber für mich ist das Weinen etwas unglaublich Heilsames und Befreiendes, sodass ich sogar bereit dafür wäre, Geld dafür zu bezahlen – und irgendwie tue ich das sogar.
Der Weg ins Gefühl
In der Dalmanuta-Arbeit geht es in erster Linie nicht darum, Wissen zu vermitteln, sondern darum, ins Gefühl zu kommen. Und genau aus diesem Grund ist es mir so wichtig, immer wieder dabei zu sein. Besonders bei den Seminaren in Deutschland oder Israel fühle ich mich durch die Übungen, Worte und Begegnungen so tief berührt, dass die Dämme oft brechen. Wenn ich endlich mal wieder loslassen kann und die Tränen fließen, dann heilt meine Seele – und das ist auch körperlich spürbar. Der Druck, der sich in mir aufgebaut hat, löst sich auf, und ich spüre eine tiefe Erleichterung, die mir zeigt, wie wichtig es ist, dieses Gefühl zuzulassen.
Gefühl und Logik
Wenn ich dann in einem dieser Seminare sitze und diese großartige Arbeit auf mich wirken lasse, bin ich mit Herz und Seele ganz dabei. So gut wie ich es kann. Denn irgendetwas in meinem Leben hat mich so getroffen, dass es mir seither schwerfällt, ins Gefühl zu kommen. Es gibt Momente, da merke ich, wie mein innerer Widerstand nachlässt. Ich frage mich dann: „Wann reißt endlich der dünne Faden des Geflechts der Logik? Wann wird es mir endlich warm ums Herz? Wann laufen mir die Tränen übers Gesicht?“ Es ist diese Mischung aus Frustration und Sehnsucht nach Erleichterung, die in mir brodelt, und dann höre ich immer wieder diese innere Stimme:
„Leg noch einen nach! Setz noch einen drauf! Ich will weinen!“
Weinen als Loslassen
Beim letzten Abschlussseminar habe ich mit mehreren Menschen darüber gesprochen und versucht, auszudrücken, was es für mich bedeutet, zu weinen – loszulassen. Denn danach fühle ich mich immer sehr frei und irgendwie auch glücklich. Es bringt mir eine tiefe innere Zufriedenheit, wenn die Emotionen endlich raus sind. Es ist, als ob ich einen Teil von mir, der lange in den Schatten gestellt wurde, wieder ins Licht holen kann – und das gibt mir das Gefühl, ganz zu sein.
Das Bild des Gefängnisses
Erst auf der Rückfahrt vom Seminar kam mir ein geniales Bild, das dieses Gefühl sehr gut einfängt:
Ich stelle mir vor, ich bin ein Gefängnis für die Emotionen(-Bande) und Stress(-Banditen), und die Wärter meines Körpergefängnises, die den Ein- und Ausgang bewachen, sind gnadenlos. Sie finden jede noch so kleine Gelegenheit, um Stress und emotionale Belastungen in Zellen zu sperren. Und dann – ganz natürlich – wird das Gefängnis überfüllt. Kein Wunder, dass ich mich dann wie ein Gefangener in meinem eigenen Körper fühle. Meine Brust zieht sich zusammen, ich bekomme schlechter Luft, Bauch-, Kopf- oder Muskelschmerzen machen sich breit. Meine Wärter lassen sich von mir kaum mal überreden, auch nur einen der Insassen freizulassen. Doch bei solchen Seminaren habe ich Unterstützung – Ihr seid das Ausbruchskommando!
Es wird Zeit für den Befreiungsschlag. Meine Wärter werden ausgeschaltet, das Gefängnis öffnet sich, und alles, was so lange eingesperrt war, darf endlich raus. Halleluja! Ich kann wieder frei atmen – und mit Tränen in den Augen von Herzen „Danke“ sagen.
Die Botschaft
Zu weinen ist nicht nur ein Ausdruck von Schwäche, sondern ein kraftvolles Werkzeug der Heilung. Ganz im Gegenteil ist es sogar ein Zeichen von Stärke, sich zu öffnen, zu fühlen und loszulassen. In einer Welt, die uns oft dazu drängt, unsere Emotionen zu kontrollieren, erinnert uns das Weinen daran, dass es okay ist, nicht immer stark zu sein und unsere Schutzmauern fallen zu lassen. Liegt nicht die wahre Stärke in unserer Verletzlichkeit?
Jeder von uns trägt Geschichten, Schmerzen und ungehörte Worte mit sich. Doch wenn wir den Mut finden, diese in Form von Tränen fließen zu lassen, machen wir Platz für Heilung, für innere Freiheit und für das pure Gefühl, lebendig zu sein. Wenn du dich traust, dich zu öffnen und loszulassen, gibst du deiner Seele die Freiheit, sich zu heilen. Also, gib dir selbst die Erlaubnis zu weinen. Denn in den Tränen liegt die wahre Befreiung – für dein Herz und deine Seele.
Bildquelle: Mann mit Tränen, CC-0, April 2025