In der Kindheit geprägt
Vieles, was uns heute immer wieder im Weg steht, haben wir bereits als Kind gelernt. Das war für mich auch, dass Denken wichtiger ist als Fühlen. Bei mir es vor allem der Satz „stell dich nicht so an“. Dieser Satz nimmt meinem Gefühl in dem Moment die Wichtigkeit und jede Bedeutung. Das, was ich fühle, zählt nicht. Vielleicht kennst du diesen oder ähnliche Sätze auch aus deiner Kindheit? Durch Sätze wie diese verlernen wir als Kinder, auf unseren Bauch zu hören. Wir lernen, dass unsere Gefühle nicht wichtig sind, nicht ausgedrückt werden sollen. Lieber sollen wir brav sein und uns anpassen. Bloß nicht starke Gefühle wie Wut zeigen.
Ins Fühlen kommen
Gerade meine Wut habe ich bis vor einigen Jahren gar nicht gespürt. Dieses Gefühl war abgeschnitten, weil es sich als Kind nicht gehört, wütend zu werden oder zu streiten. Es hat Zeit gebraucht, meine Wut wieder als ein Gefühl wie jedes andere zu spüren und anzunehmen. Bis dahin hatte es mich nicht gestört, dass ich nicht wütend werde. Mein Kopf gibt sich gerne der Illusion von Kontrolle hin und Wut ist so unkontrolliert.
Heut weiß ich: Meine Wut gehört ebenso zu mir wie meine Leichtigkeit oder Freude. Und das Gefühl der Wut hat so eine Lebendigkeit und Intensität, dass es fehlt, wenn ich es nicht lebe. In der Wut zählt nur der Moment. Vielleicht ist es bei dir ein anderes Gefühl, welches du lange nicht mehr zugelassen hast. Auch Traurigkeit, Hilflosigkeit oder Schwäche sind Gefühle, die viele nicht mehr fühlen wollen. Sie versuchen sie zu überdecken mit Ablenkung, wie Serien, Spiele oder Shopping. Oder sie werfen sich in das Gegenteil. Um sich nicht mehr Hilflos oder schwach zu fühlen, brauchen sie keinerlei Hilfe und schaffen alles alleine. Doch auch diese Gefühle gehören zum Leben.
Habe ich die Wahl?
Lange habe ich in der Illusion gelebt, ich könne mir aussuchen welche Gefühle ich spüre. Die „schönen“ Gefühle waren erlaubt und die vermeintlich schlechten Gefühle wollte ich ausschließen. Meine Wut und meine Traurigkeit habe ich nicht zugelassen. Mein Kopf hat versucht, alles zu kontrollieren. Aber diese Art der Kontrolle hat leider Nebenwirkungen: Auch die Freude ging verloren.
Schließe ich die oft als negativ bewerteten Gefühle wie Trauer oder Hilflosigkeit aus, verliere ich auch die Freude und die Leichtigkeit. Gefühle gibt es nur als Gesamt-Paket. Unterdrücke ich die negativen Gefühle, zeigen sich auch die angenehmen Gefühle kaum noch. Ich stelle mir das immer wie ein Pendel vor. Die Gefühle schwingen in verschiedene Richtungen, ins Leichte und ins Schwere. Blockiere ich nun die schweren Gefühle, bremse ich das Pendel der Lebendigkeit ab. Es pendelt dann auch in die Richtung der leichten Gefühle nur noch sehr gebremst.
Am liebsten Kontrolle
Mein Bestreben, meine schweren Gefühle nicht spüren zu müssen, hat mich immer weiter von meinem Herz entfernt. Mein Kopf wurde immer wichtiger und ich wurde immer verkopfter und mein Herz hat sich immer mehr verschlossen. Erst als ich begriffen habe, dass mein Kopf mich nicht aus meiner Gefühllosigkeit holen kann, konnte sich etwas ändern. Denn das Leben kann ich nicht denken. Ich kann mein Leben nur spüren.
Das Leben fühlen
Wenn ich zu viel Wert auf Denken und Wissen lege, wenn ich versuche meine Gefühle zu kontrollieren und alles Bewerte, verhindere genau das, was ich mir eigentlich wünsch: Ich verpasse die Lebendigkeit des Lebens. Das Leben ist stets mitten rein, wo der Kopf noch zögert. Das Leben will gefühlt werden, in alle Richtungen. Wenn es gelingt, wieder mehr ins Fühlen zu kommen, erleben wir so viel mehr Lebendigkeit und Tiefe. Denn unser Herz weiß den Weg schon, während der Kopf noch bewertet und kontrolliert.
Traust du dich, zu spüren, statt zu denken?
Wagst du deinen Gefühlen wieder mehr Raum zu geben?
Am besten fängst du gleich heute: In was wagst du dich heute mitten rein, weil es dein Herz dir zuflüstert?
Bildnachweis für diesen Beitrag: Hände, Gräser, Fühlen © Fotorech (pixabay CC-0)