Hilflosigkeit löst, nicht nur bei mir, Aggressionen aus. Dieses Gefühl, nichts machen zu können, ist manchmal unerträglich. Wer kennt nicht die ohnmächtige Wut, die entsteht, wenn etwas Wichtiges schief geht, etwas gegen den eigenen Willen passiert oder sonst wie in die Katastrophe läuft und man merkt, dass man das Ganze nicht aufhalten kann. Ich erlebe dieses Gefühl jedes Mal, wenn ich meine Mutter in der Pflegeeinrichtung, in der sie heute leben muss, besuche.
Meine Mutter leidet unter Demenz. Meine Mutter war die starke Frau meiner Kindheit und meiner Jugend, was ich nicht immer toll fand, aber sie hat alles geregelt und vieles bestimmt. Als berufstätige Frau in einer Führungsposition war sie immer die Frau der Lage. Mein Vater hat sie machen und bestimmen lassen.
Am Anfang war es nur eine Vergesslichkeit, dann fand sie ihr Auto nicht wieder, wenn sie in der Stadt geparkt hatte. Da er die Vergesslichkeit gut überbrücken konnte, wurde vieles von meinem Vater aufgefangen. Ich fing an, für meine Eltern die vertraglichen und finanziellen Dinge zu regeln. Ein Job, den meine Mutter früher im Schlaf beherrschte. Als mein Vater vor fast drei Jahren starb, beschleunigte sich der Verfallsprozess. Die schlimmen Folgen von Corona für Menschen in Pflegeheimen kamen noch dazu. Heute weiß sie nicht mehr, welcher Tag ist, was sie gerade gegessen hat oder wer sie vor ein paar Stunden besucht hat. Sie kann sich nicht mehr alleine anziehen und findet den Weg zum Essen oder zu ihrem Zimmer nicht mehr.
Immerhin erkennt sie mich noch, wenn ich sie besuche
Und jetzt sitzt da ein Häuflein Mensch, der nichts mehr alleine regeln kann. Alles in mir rebelliert: Das kann, das darf nicht sein! Mein inneres Kind ist fassungslos und wütend angesichts der fehlenden Präsenz von seiner Mama. Es fällt mir mit dieser Gefühlslage sehr schwer, diese wichtigen regelmäßigen Besuche zu absolvieren. Jede Ausrede, diese Woche nicht zu fahren, wird gerne angenommen.
Auch der Erwachsene wird hilflos und wütend. Irgendjemand muss doch dafür verantwortlich sein!? In meinen Gedanken mache ich Ärzte und Pflegepersonal für ihren Zustand verantwortlich und bin drauf und dran, laut und unhöflich zu werden. Das ist der Moment, wo ich es schaffe mich zu stoppen und mir bewusst zu machen, was in mir gerade abgeht. Der Verstand sagt, wie immer: Das kannst du nicht ändern, das musst du akzeptieren.
Und dann suche ich den blöden Akzeptanzknopf und finde ihn nicht :o(
Frustriert falle ich zurück und in meine ohnmächtige Hilflosigkeit. Erst dann, wenn ich es schaffe, mir meiner Gefühle bewusst zu werden, kann ich spüren, dass es Trauer ist, die mich hier bestimmt. Meine Mutter lebt zwar, aber ich vermisse trotzdem die Person, die sie einmal war. Wenn ich das spüren kann, kommt ganz von alleine das Mitgefühl für sie. Dann kann ich in sie hineinspüren und kann wahrnehmen, dass sie sich zwar auch hilflos fühlt, aber viel mehr in sich ruht als mein Verstand das glauben will.
Das war im Verlauf der Erkrankung nicht immer so, nimmt aber zu. Sie zieht sich in sich zurück. Ein, wie ich glaube, normaler Prozess dieser Krankheit.
Das ist dann der Moment, in dem so etwas wie ein wenig Akzeptanz in mir entstehen kann. Und dies ist ein langsamer Wachstumsprozess, der nicht von heute auf morgen passiert.
Ich kann mir zwar sagen, dass ich dieses oder jenes akzeptieren MUSS. Das hilft aber nicht. Erst wenn ich die Akzeptanz wirklich fühlen kann, dann holt mich das aus der Hilflosigkeit. Das ist der Moment. Der Moment, in dem ich das Zusammensein mit ihr wieder positiv wahrnehmen kann und auch die Blockade, sie zu besuchen, abbauen kann.
Akzeptanz kann man nicht verordnen. Alleine der Spruch “Das musst du halt akzeptieren!” hat für mich ein sehr hohes Aggressionspotential.
Akzeptanz kann nur aus der Bewusstheit der Gefühle heraus entstehen und muss langsam wachsen!
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