Grenzen erleben
Neulich war ich in meiner Heimat, dem Harz, zwischen Bad Harzburg und Ilsenburg wandern. Meine Tour führte mich entlang des Eckerstausees. Einst war er durch die innerdeutsche Grenze geteilt; mitten durch den See samt seiner Staumauer und der einzigartigen Natur war eine Trennlinie zwischen den zwei deutschen Staaten errichtet worden. So hatten es die Menschen nach dem 2. Weltkrieg beschlossen. Nach mehr als 30 Jahren deutscher Einheit ist das heute kaum noch vorstellbar. Oder vielleicht doch, in einer Zeit, in der sich Menschen wieder weiter voneinander entfernen?
Diese Gedanken gingen mir auf meinem Weg um die Talsperre durch den Kopf. Dabei fiel mir ein wunderbarer Film ein, der auf der Berlinale im letzten Jahr seine Premiere gefeiert hat. Auch hierin geht es um die Themen Natur, Trennung sowie Einsamkeit. Und um das große Thema, welches für uns ein Grundstein unseres Lebens ist: die Liebe!
Der Undine-Mythos
Der Film heißt „Undine“ und ist Regisseur Christian Petzolds faszinierende Neuinterpretation des Mythos der geheimnisvollen Wasserfrau Undine, die nur durch die Liebe eines Menschen ein irdisches Leben führen kann: ein modernes Märchen in einer entzauberten Welt, die Geschichte einer Liebe auf Leben und Tod. Um Leben und Tod ging es sicherlich oft auch an dieser Grenze, insbesondere an diesem Stausee.
Die Geschichte des Films sei einmal kurz erzählt:
„Undine (Paula Beer) lebt in Berlin. Ein kleines Appartment am Alexanderplatz, ein Honorarvertrag als Stadthistorikerin, ein modernes Großstadtleben wie auf Abruf. Als ihr Freund Johannes (Jacob Matschenz) sie verlässt, bricht eine Welt für sie zusammen. Der Zauber ist zerstört. Wenn ihre Liebe verraten wird, so heißt es in den alten Märchen, muss sie den treulosen Mann töten und ins Wasser zurückkehren, aus dem sie einst gekommen ist.
Undine wehrt sich gegen diesen Fluch der zerstörten Liebe. Sie begegnet dem Industrietaucher Christoph (Franz Rogowski) und verliebt sich in ihn. Es ist eine neue, glückliche, ganz andere Liebe, voller Neugier und Vertrauen. Atemlos verfolgt Christoph ihre Vorträge über die auf den Sümpfen gebaute Stadt Berlin, mühelos begleitet Undine ihn bei seinen Tauchgängen in der versunkenen Welt eines Stausees. Doch Christoph spürt, dass sie vor etwas davonläuft. Undine muss sich dem Fluch stellen. Diese Liebe will sie nicht verlieren.“ (Inhaltsangabe des Filmverleihs „Piffl Medien“)
Nun kann man ja sagen, dass Undine eine Märchenfigur ist, die Mensch werden will. Und wir sehen sie bei der Verwirklichung dieses Wunsches im Film. Als Realist weiß der Regisseur, dass die Versöhnung von Natur und Vernunft zu schön ist, um wahr zu sein, doch als Romantiker rettet er das Märchenhafte in das freie Spiel von Kinobildern, die immer wieder neu in ihre Rätselhaftigkeit eintauchen. An der unbedingten Lebendigkeit der mythischen Undine sollen die falschen Mythen der Gegenwart zugrunde gehen. (aus der Kritik in „Die Zeit“ zum Film)
Die Rückkehr der Liebe
Der letzte Satz aus der Kritik der Wochenzeitung „Die Zeit“ ist mir tief im Gedächtnis geblieben. Und hat an diesem besonderen Ort im Zuge meiner Wanderung neue Bedeutung erlangt. Die Natur zeigt uns, wie es geht: auch sie hat diese Grenze und andere Zeiten überstanden und somit auch die Rückkehr der Vernunft miterlebt. Ich bin mir sicher, dass es genauso bei uns Menschen funktionieren kann. Wenn die Liebe in unsere Herzen zurückkehrt, wenn wir uns auf unsere Stärken besinnen und wenn wir auch Veränderungen zulassen, dann können wir alles (er)schaffen. Öffne dich für die Liebe und gib sie auch an andere Menschen weiter. Denn nur so kann, wie im Film, aus einem modernen Märchen in einer entzauberten Welt die Geschichte einer Liebe mit Hoffnung und Zuversicht werden. Gerade in diesen Zeiten.
Die Wahrheit der Nächstenliebe
Ohne die Liebe geht es nicht. Sie ist jedoch nicht fassbar, weil es sich um ein individuell ausgelegtes Gefühl handelt, welches wir manchmal vergessen haben. Momente wie mein Naturerlebnis am Stausee helfen mir, mich wieder daran zu erinnern, was ein Film, was die Musik oder die Erinnerung an die Vergangenheit bewirken können: die Liebe immer wieder neu zu entdecken. Ob nun in mir selbst oder in einem anderen Menschen. So kehrt auch das Mitgefühl zurück, ein wichtiger Baustein der Nächstenliebe und somit unseres Lebens.
„Undine ist die verratene Wasserfrau. In der alten Mythologie lebt sie in einem Wald, in einem See. Ein Mann, der eine Frau unglücklich liebt, dessen Liebe nicht erwidert wird und aussichtslos ist und der nicht mehr weiß, wohin mit sich, seinen Gefühlen, der unfassbar verzweifelt ist, der kann in den Wald, an das Ufer des Sees gehen und Undines Namen rufen. Sie wird kommen. Und sie wird ihn lieben. Diese Liebe ist ein Vertrag. Nie darf sie verraten werden. Wenn sie verraten wird, dann muss der Mann sterben. Nun ist es so, dass der, der liebt und geliebt wird, leicht und frei und auch wieder liebens- und begehrenswert erscheint.“ (aus der Kritik in „freitag” zum Film)
Verortung von Mythen in uns, in mir und in dir
Das Kino ist für mich ein wichtiger, ein sozialer Ort. Und für jeden Film wird somit das kollektive Erlebnis zur Bewährungsprobe: Ein Kunstwerk ohne Betrachter ist nämlich keines mehr.
„Undine” erzählt von unserer Entfremdung von Mythen, von Grenzen und von der Liebe. Aber was haben wir im letzten Jahr und den ersten Monaten dieses Jahres getan, um die Liebe und die Hoffnung an andere Menschen weiterzugeben? Was kannst du tun, um anderen Menschen dabei zu helfen, ihre Stärken und ihren Mut wiederzufinden und dabei auch wieder auf die alten Mythen zu vertrauen? Mythen erheben nämlich einen Anspruch auf Geltung für die von ihnen behauptete Wahrheit. Welche Grenzen sind zu überwinden, damit du deinen begonnenen Weg fortsetzen und eine neue Richtung einschlagen kannst?
Quellen:
Petzold, Christian: Undine [Film]. Frankereich/BRD: Schramm Film, Koerner & Weber GbR [de], Les Films du Losange [fr], ZDF – Zweites Deutsches Fernsehen [de], Arte [de/fr], Arte France Cinéma [fr], 2020.
Piffl Medien GmbH(Filmverleih).Undine. BRD 2020.
<http://www.piffl-medien.de/film.php?id=176&kat=vorschau#zumfilm> (28.02.2021).
Assheuer, Thomas. Wenn Mythen lügen. BRD, In: zeitonline.de, 2020.
<https://www.zeit.de/2020/28/undine-christian-petzold-film-mythos> (28.02.2021).
Undine (2020). BRD, In: wikipedia.org, 2020.
<https://de.wikipedia.org/wiki/Undine_(2020)> (28.02.2021).
Eine Ode an die Liebe. In: freitag.de, 2020.
<https://www.freitag.de/produkt-der-woche/film/undine/eine-ode-an-die-liebe)> (28.02.2021).
Die Berlinale 2021: ein Festival in zwei Stufen. BRD, In: berlinale.de, 2021.
<https://www.berlinale.de/de/news-themen/festival-2021/edition-71.html> (28.02.2021).
Bildquelle:
Das Foto vom Eckerstausee im Harz wurde von Oliver Freff erstellt (2021).