Trauer und die Kraft der Liebe

Autor: Janina Fein
Trauer: the power of love

Es gibt Momente im Leben, die kannst du nicht wegmeditieren. Es gibt Momente im Leben, die kannst du nicht mal wegatmen. Momente, die dich so im Kern erschüttern, dich so durchdringen, vielleicht durchdringen müssen, damit es irgendwann irgendwie wieder besser wird.

Seit 20 Jahren mache ich Yoga und seit 10 Jahren bin ich Yogalehrerin. Irgendwann in dieser Zeit bin ich eine Yogini geworden. Irgendwann in dieser Zeit habe ich Yoga nicht nur verstanden, sondern angefangen zu spüren. Und irgendwann in dieser Zeit habe ich begonnen, den Teilnehmer:innen in meinen Kursen kleine Vorträge über das Hier und Jetzt zu halten, den Zauber des Augenblicks. Ich dachte immer, ich weiß, wovon ich rede. Ich dachte immer, ich weiß, wie sich das anfühlt: im Hier und Jetzt zu sein. Nur den einzelnen Moment zu erleben, ohne an den Moment davor und den danach zu denken.

Tja. Bullshit.

Hier und Jetzt

Was es wirklich bedeutet, im Hier und Jetzt zu sein, das weiß ich erst, seitdem ich meinen Papa begleitet habe, bis er im Juni 2020 verstorben ist. So viele Momente, so viele Augenblicke, in denen mich so eine tiefe Klarheit durchfuhr, dass genau dieser Moment mit meinem Papa der letzte ist. Diese Klarheit hat mich jede Sekunde so bewusst erleben lassen – vor allem mein Herz berührt und wundervolle Erinnerungen geschaffen. Im Hier und Jetzt zu sein und nur das Hier und Jetzt zu spüren, ohne Gedöns und Ablenkung im Außen: Ich glaube, das geht erst, wenn du einmal erfahren und gefühlt hast, wie es ist, einen geliebten Menschen gehen zu lassen – und du weißt, dass kein einziger Moment mehr wiederkommen wird.

Nach 1,5 Jahren gibt es nach wie vor viele Tage, an denen ich meinen Papa sehr vermisse. Doch das Vermissen, die Trauer, haben sich verändert. Mittlerweile darf ich tiefer gehen, um zu spüren, dass mein Papa nach wie vor da ist. Dass er überall dort ist, wo ich bin. Mehr spüren, mehr fühlen – und weniger versuchen, zu wissen, zu verstehen. Kopf aus, Herz weit. Manchmal gelingt das mühelos, manchmal gar nicht. Denn Anstrengung bringt nichts an solchen Tagen, im Gegenteil: Je mehr ich versuche, mit dem Kopf mein Herz zu öffnen, desto enger wird es in mir. Denn: Das Herz hat seinen Verstand, den der Verstand nicht kennt. Das Herz kann nicht durch den Kopf, nicht durch Logik und irgendwelche Strategien geöffnet werden. Es gibt nichts zu steuern oder zu forcieren. Du kannst deinem Herzen nichts vormachen. Wenn dich etwas berührt, berührt es dich – und wenn nicht, dann nicht.

Trauer …

Mit der Trauer ist es ähnlich. Du kannst dir nicht vornehmen: Heute trauere ich und morgen nicht. Du kannst die Wellen der Trauer nicht vorherbestimmen. Sie werden von einer ganz besonderen Energie, einer besonderen Kraft geleitet: der Liebe. Trauer ist ein so intensiver und vor allem ein zutiefst innerer Prozess, der vom Außen jedoch mit getragen wird. In Zeiten der Trauer ist ein stabiles Außen wichtig, weil im Inneren alles oder vieles erschüttert, zerbricht, durcheinander ist. Wenn nun aber das Außen – so wie in diesen Zeiten – das Innere nicht mehr gut stützen oder tragen kann, weil auch hier eine Art Chaos ist und eine Neusortierung stattfindet, wird es heftig.

Wer trauert, sehnt sich oft nach Struktur, Ordnung, nach einem Rahmen, der unerschütterlich ist und der das zersprengte Innere nicht völlig auseinander wabern lässt. Es ist die Sehnsucht nach Stehenbleiben, der Wunsch danach, die Zeit anzuhalten und kurz zu erstarren – festzuhalten, was war.

… ist Liebe

Wir alle kennen das universelle Gesetz, dass alles immer in Bewegung ist. Allerdings bewegt sich alles nicht immer in einem hohen Tempo, sondern oft auch sehr langsam, gemächlich, sodass wir die äußeren Bewegungen in vielen Momenten gar nicht mitbekommen. Wenn das Außen sich jedoch aber unablässig in einem hohen Tempo bewegt und du dich in einer Ausnahmesituation innerhalb einer Ausnahmesituation wiederfindest, dann braucht es vor allem eines: die verbindende Kraft der Liebe. Denn wir sind immer nur so stark, wie wir vereint sind und immer nur so schwach, wie wir getrennt sind.

Umso dankbarer bin ich für jene Menschen, die für mich dieser Halt und diese Stützen waren und sind. Menschen, bei denen ich schweigen kann und doch verstanden werde. Menschen, die mir Antworten schenken, obwohl die Frage noch gar nicht ausgesprochen ist. Menschen, die mein Herz berühren und ich ihres und die mich spüren lassen: Ich bin in deinem Team, komme, was wolle.

Wer einen geliebten Menschen verabschiedet hat, von den Wellen der Trauer in diesen herausfordernden zwei Jahren immer wieder mitgerissen und vielleicht auch das eine oder andere Mal durchgewirbelt und unter Wasser gedrückt wurde, weiß: Liebe ist immer die Antwort. Die Frage ist unwichtig – denn Liebe ist ein Tu-Wort.

 

Bildnachweis für diesen Beitrag – Copyright Anita Dorp (AMANI) , Hamminkeln 2020:
„Wenn du das Gefühl hast zu ertrinken, denke immer daran: Der Jesus in dir kann über das Wasser laufen.”

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