Im Licht des Augenblicks

Autor: Cordula Duve
Im Augenblick

Berührung

Vor einiger Zeit begleitete ich mit drei weiteren Helfern eine Gruppe demenzkranker Menschen zu einem Freilichtmuseum, in dem man das Leben in früheren Zeiten nachgestellt hat. Mit einer der Teilnehmerinnen, die hochgradig dement ist, stand ich an einer Weide mit Eseln. Einer von ihnen näherte sich ihr und nach einiger Zeit berührte sie ihn zaghaft.

Als mich die Dame ansah, hat sie mich mit ihren Augen unglaublich berührt: Die Augen leuchteten, sie waren klar, wach und voller Tränen. In diesem Moment war es da: das Licht des Augenblicks. Der Ehemann war so fasziniert von seiner Frau, dass er sie fortwährend fotografierte. Er wollte diesen einen Moment festhalten. Kurze Zeit später wurde es wieder dunkel um die alte Dame. Ich habe diesen Augenblick genossen und war von unendlicher Dankbarkeit erfüllt, dass die Dame in diesem kurzen Moment ganz und gar wach und von Gefühl erfüllt war.

Präsent sein

Wo sind meine Augenblicke? In letzter Zeit kam mir diese Begebenheit immer wieder in den Sinn und hat mich ein wenig durchgerüttelt. Wie oft stecke ich in meinen Grübeleien fest. Ich drehe die Dinge von rechts nach links, von oben nach unten. Ein Weg findet sich dennoch selten. Angeblich soll der Mensch – und Frauen insbesondere – ca. 60.000 Gedanken am Tag denken. Ich schaffe das mit links. Ständig scheint es scheinbar Wichtigeres zu geben als den Moment.

Was machen meine Gedanken mit mir? Sie trennen mich vom Augenblick, hemmen meine Lebensfreude und es fehlt meine Lebendigkeit. Manchmal quälen mich Ängste und Zweifel. Ich versuche Lösungen zu finden, anstatt die Dinge einfach laufen und das Leben machen zu lassen.
Wie viele Augenblicke habe ich schon verpasst, zu genießen und zu leben? Wie viele kleine Wunder habe ich schon übersehen? An wie vielen Menschen bin ich vorüber gegangen, ohne sie zu bemerken? Dabei kenne ich lichtvolle Augenblicke, wenn die Zeit stillzustehen scheint. Es gibt kein Denken, keine Ängste, nur Frieden und das Jetzt. Dieser Moment ist zeitlos. Er ist!

Achtsamkeit üben

Seit einiger Zeit übe ich wieder die Achtsamkeit. Bereits morgens meditiere ich. Immer wieder tagsüber versuche ich innezuhalten, zu atmen und in den Himmel zu schauen. Dies alles geschieht mit voller Aufmerksamkeit und manchmal nur für Sekunden. Manchmal ist es äußerst unbequem, mich von meinen Grübeleien loszureißen. Dennoch gelingt es mir immer wieder einmal, dass die Aufmerksamkeit ganz und gar nur diesen kleinen Moment einnimmt.

Vom Wert des Augenblicks

Durch diese Augenblicke entstehen innere Ruhe und Einkehr. Wir alle wissen um die Bedeutung und Wichtigkeit der Achtsamkeit, und dennoch lässt der Alltag häufig anscheinend keinen Raum dafür. Gerade in dieser verrückten Zeit ist jeder von uns ganz besonders gefordert, immer wieder in Präsenz zu bleiben und sich nicht von der Unruhe, den gegensätzlichen Meinungen, manchmal auch Anfeindungen einnehmen zu lassen.

Wir brauchen mehr denn je die Momente des Innehaltens, um die Achtsamkeit auf die kleinen Wunder zu richten. Es ist so wichtig, andere Menschen in diese Momente mitzunehmen und sie teilhaben zu lassen. Gemeinsam erlebte Augenblicke sind wertvoller denn je. Und jeder lichtvolle Moment jedes einzelnen, kann zu dem eines anderen werden.

 

Bildnachweis: Copyright Cordula Duve 2021

Cordula Duve

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