Eine Weihnachtsgeschichte über Barney und die Liebe

Autor: Simone Osteroth

Und dann stand sie da in den dunklen Gassen und blickte an sich hinunter. Außer ihrem weißen Laibchen und den zerschlissenen Sandälchen trug sie nur ihr Erinnerungsbuch bei sich. Gefüllt mit Zeichnungen, Bildchen, Haarsträhnen, einem Kussmund – halt allem, was einem eine Erinnerung hervorrufen kann. Sie war müde und hungrig. Sie schlich an den Häusern vorbei. Wagte einen Blick durch die Fenster. Nur sehr vorsichtig. Zu groß war die Sehnsucht – selbst bei Kerzenschein auf einem Sofa sitzen zu dürfen. In Gemeinschaft mit einer Familie. Zu groß die Sehnsucht nach dem Gefühl von Geborgenheit. Sie stolperte über ihre lockere Sohle und zwang sich, die müden Beine zu heben.

Es fiel ihr schwer. Also ließ sie sich an einer Hauswand runterrutschen und setzte sich auf den kalten Boden. Dann ist es jetzt eben so, wie es ist. Ich sitze hier. Ich habe keine Familie. Alles, was ich habe, sind meine Erinnerungen. Also habe ich mehr als nichts, dachte sie. Und während sie mit geschlossenen Augen in Erinnerungen schwelgte, spürte sie plötzlich etwas Warmes und Feuchtes an ihrem Gesicht, das ihr den Atem ins Gesicht blies. Sie erschrak und blinzelte durch ihre müden Augen. Sie sah eine rabenschwarze Nase, weiße Zähne, eine rote Zunge und ganz viel Fell drumherum. Und schwupps- schlabberte ihr diese rote nasse Zunge noch einmal quer durch das Gesicht.

 

Die Bekanntschaft mit Barney

Aus der Ferne hörte sie aufgeregte Rufe. Und so sehr sie sich auch erschrak über dieses große fellige Etwas. Irgendetwas bereitete ihr in ihrem Innersten ein wohliges Gefühl. So etwas wie „Zugehörigkeit“ und „gesehen werden“ und „ich mag dich“ war zu spüren. Wie lange hatte sie das schon nicht mehr spüren dürfen. Sie streckte ihre kalten Finger aus und sie verschwanden komplett in langem, warmem Fell. Mittlerweile kam die hektische Stimme schneller und rief: „Barney – hiiiiieeeerrrr! Warum kannst Du einfach nicht hören?“

„Warum rufen Sie so laut? Er ist doch hier bei mir.“ – „Ja eben, genau das soll er nicht. Er soll nicht einfach zu fremden Menschen laufen. Er ist ein großer Hund. Er soll Kindern keine Angst machen.“ – „Aber das hat er nicht getan. Er hat mir keine Angst gemacht. Er hat mir Wärme gegeben“ – Und da sah die Dame erstmals dieses kleine Mädchen in dem dünnen Laibchen und Sandalen dort hocken. Dreckig und an ein Buch geklammert. Ihr Hund drückte sich an das Mädchen, wie er es noch nie getan hatte.

 

Über die Runden kommen

„Was machst Du hier draußen alleine?“ – „Ich? Ich bringe mich über die Runden. So sagt ihr Erwachsenen doch. Ich hab nur keine Ahnung – wie viele Runden es noch sein müssen. Bis, bis man in so einem Haus mit Kerzenschein und Familie leben darf.“ – „Wie? Was meinst Du mit Runden?“ – „Na, das habe ich so gehört. Ich komme so über die Runden.“ Ach, mein liebes Mädchen, meinst Du, wir werden im Leben auf Proben gestellt und müssen erst Runden drehen, bevor wir etwas verdient haben? Große Kulleraugen schauten die Frau verwundert an und das kleine Köpfchen nickte.

„Aber mein Mädchen. Hast Du Lust auf einen warmen Kakao?“ – „Oh ja“- sie sprang voller Vorfreude auf. Etwas zu hastig für den großen schwarzen Hund, der es ebenfalls mit aufspringen und einem kleinen Wuff kommentierte. Aber dann drehte er sich direkt wieder an ihre Seite und ging genau in ihrem Tempo neben ihr die Straße entlang. Manchmal ganz vorsichtig streckte sie ihre kleine Hand in sein langes Fell. Und genoss die Nähe und die Wärme und das Gefühl von Zusammengehörigkeit. Und im nächsten Augenblick erschrak sie wieder davor. Aus lauter Angst – sie könnte es genauso schnell wieder verlieren.

Sie betraten ein kleines Haus. Kleine Fenster und nicht viele Zimmer. Aber es strahlte so eine Wärme und so eine Liebe aus, wie sie es erst einmal erlebt hatte. Der Hund ging hinein – leerte seinen Napf, der bereits für ihn vorbereitet wurde und legte sich vor den Kamin. Augenblicklich schloss er seine Augen und schlief selig ein. Der Geruch von Kakao durchströmte die Stube, während das Mädchen unentwegt ihre Augen schweifen ließ. Vorbei an Fotos, vielen Büchern, Kerzen und Sprüchen, die ein Herz erfüllen konnten. Sie fühlte sich sehr wohl und hatte irgendwie ein Gefühl, als kenne sie das von irgendwoher.

 

Der Sinn der Natur und der Welt

Die Frau bot ihr eine Decke an – öffnete die Keksdose und reichte ihr den warmen Kakao. Mit dem Blick auf die Sandale sagte sie zu dem Mädchen: „Du bist bestimmt viel herumgekommen und konntest dich in der Natur genau umsehen.“ – „Ja klar. Ich bin gern draußen bei den Blumen, im Wald, bei den Tieren“
Dann hast Du doch bestimmt auch mitbekommen, dass eines ins andere greift. Dass alles aufeinander abgestimmt ist. Die Jahreszeiten aufeinander folgen. Der Sommer mit seiner Hitze und manchmal auch Dürre. Der Herbst, mit seinen tollen Farben – die Bäume, die ihre Blätter verlieren als Vorbereitung auf den Winter. Jetzt, wo alles zur Ruh kommt, und die Natur ruht. Um im Frühjahr wieder neu erwachen zu können. Knospen zu bilden, um im Sommer oder Herbst wieder Früchte tragen zu können.

„JA, das habe ich bemerkt“ – „JA und warum glaubst Du dann, dass es bei uns Menschen anders ist? Dass bei uns nicht auch alles aufeinander abgestimmt ist? Wir sind nicht hier, um einfach nur unsere Runden zu drehen. Sondern wir sind hier, weil wir genau im Hier und Jetzt auf dieser Erde gebraucht werden. Und weil wir gewollt werden und geliebt sind. Es ist kein Zufall, dass es dich gibt. Sondern jemand braucht DICH, will DICH und liebt DICH. Genau hier in diesem Moment. In all diesen Jahren. Weil Du ein Teil des großen Ganzen bist.“

 

Der Sinn und die Liebe

„Was ich?“ – „Ja klar Du! Genauso wie ich!“ – „Du auch?“ – „Na klar!“ – „Und Barney auch?“ – „Na klar. Er auch! Und ich glaube, er sollte dich finden.“
„Wer weiß schon, was alles für uns geplant ist. Natürlich sollen wir uns nicht nur auf unseren Lorbeeren ausruhen. Sondern unsere Leidenschaften entdecken und dann auch in die Welt tragen. Und nicht darauf warten, dass jemand die Welt zu uns trägt. Aber all das in der Gewissheit, dass wir gewollt und geliebt sind und gebraucht werden. Und dass die Liebe der Motor unseres Handelns ist.“
Die Augen des Mädchens leuchteten. Vor lauter Lauschen mit offenem Mund war ihr Kakao ganz kalt geworden. Und gleichzeitig fühlte sie sich so warm wie lange nicht mehr. Zuletzt damals, als sie ihre Mutter sagen hörte.

„Ich weiß nicht, warum das so passiert – wie es passieren wird. Wir können uns nicht dagegen wehren. Aber ich hoffe, irgendwann wirst DU einen Sinn finden. Einen Sinn in deinem Leben und dann mit anderem Blick auf das Jetzt zurückschauen können.“
Der Blick des Mädchens fiel auf eine besonders schöne Kerze, deren Flamme nur so tanzte. Sie schaute auf die Flamme und hatte plötzlich eine Ahnung. Zwar noch ganz klein – aber zum ersten Mal kam es auf – Eine Ahnung davon, dass tatsächlich alles im Leben einen Sinn haben könnte und tatsächlich eines ins andere greift und dass es weniger darum ging, um die Runden zu kommen. Sondern dass es darum ging – sich geliebt zu fühlen.

Sie wurde müde – ihr Kopf sank zur Seite und seit langem schlief sie mal wieder glücklich ein – begleitet von einem warmen Luftzug aus einer wohlig schnaufenden Hundenase. Und während sich ihre kleinen Fingerchen öffneten – sank ihr Buch zu Boden und klappte an einer Stelle auf. Die Dame las in schönster Schreibschrift folgende Zeilen: „Meine Kleine – wenn ich nicht mehr da bin – dann geh los. Voller Vertrauen und mache dich auf die Suche. Du wirst sie wiederfinden. Die Liebe. Sei gewiss!!“
Eine Träne rang ihr zufrieden die Wange hinunter. JA, sie wird sie ihr geben. Gemeinsam mit Barney.

 

Bildnachweis: weihnachten-lichter-natur-thema-2547356 @ bluartpapelaria (pixabay CC-0)

Simone Osteroth

Simone Osteroth

simone-osteroth.de

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