Die Reise ins Innere / Die Reise zur Mitte

Autor: Anita Wolbeck
Frau haelt Kerze in ihrer Mitte

Das Leben ist eine Reise auf einem Fluss. Es ist ständig in Bewegung. Das einzig Beständige ist das Unbeständige. Es gibt Wegbegleiter, die von Anfang an da sind und eine lange Zeit mitreisen. Es gibt Stationen, an denen neue Menschen hinzukommen. So wie es auch Stationen gibt, an denen man sich von Menschen verabschiedet.
Eine Person begleitet dich über die gesamte Strecke des langen Lebensflusses. Und das bist du!
Ist das so?

Natürlich habe ich mein ganzes Leben mit mir verbracht. Nur habe ich zurückblickend das Gefühl, dass ich nicht die ganze bisherige Reise in einem Stück gereist bin. Ein Teil von mir ist irgendwann mal ans Ufer gegangen und hat mich alleine weiterreisen lassen. Und das war die sinnliche Anita. Ich war von Sinnen. Die Fähigkeit meinen Körper zu spüren, meine Gefühle zu leben, war sehr stark eingeschränkt.
Ich hatte eine intensive Behandlung hinter mir. Mein großer Traum, eine Familie zu gründen, wollte nicht ohne Hilfe funktionieren. Eine intensive Behandlung, in der die schönste Nebensache der Welt, für mich stark in den Hintergrund rückte. Nachdem diese Behandlung erfolglos abgeschlossen war, merkte ich, dass da ein Teil von mir fehlte.

Expedition

Und das sollte nicht so bleiben. Also ging ich auf eine Expedition, um meine Sinnlichkeit wiederzuentdecken. Der einfachste Weg, mit jemandem Kontakt aufzunehmen, ist ein Blick. Ich fing an, nicht mehr in den Spiegel zu sehen, sondern mich anzuschauen. Mich einfach nur wahrzunehmen. Ganz ohne Wertung. Ich schaute in mein Gesicht. Nahm Fältchen vom Lachen, vielleicht auch von traurigen Momenten wahr. Erkundete die Region um meine Augen, um mir dann tief in die Augen zu sehen. Ich fing an, ganz bewusst freundlich zu schauen, mich anzulächeln. Als wenn ich mich ermuntern würde, den verlorenen Teil wieder freizugeben. Klar fühlte es sich zu Beginn komisch und unecht an, aber ich gab nicht auf. Bis heute schaue ich mir immer wieder bewusst in die Augen und lächle mich an, wenn ich in den Spiegel schaue. Besonders, wenn es mir grade nicht gut geht.

Mit dem Beginn dieser Übung startete ich mich gegenüber nahen Freunden zu öffnen und es startete eine aufregende Reise. Ich lernte wunderschöne Menschen kennen, mit denen ich intensive Gespräche führte. Durch die Öffnung nach Außen, dadurch dass Menschen sich mir gezeigt haben, sich verletzlich gemacht haben, konnte auch ich mich immer mehr zeigen. Mich von meiner verletzlichen Seite zeigen. Und dadurch, dass ich mich gezeigt habe, verletzlich gemacht habe, kam ich immer mehr in Kontakt mit meinem Inneren. Dem Teil, der abhandengekommen war. Ich durfte aufregende Orte besuchen, an denen Workshops angeboten wurden, um wieder mehr in Kontakt mit seiner Sinnlichkeit zu kommen. Eine Sinnlichkeit, die mich ganz im Hier und Jetzt in Kontakt zu all meinen Sinnen brachte. Die Reise im Außen ließ mich meine Mitte neu entdecken und dort eine Stärke entstehen, die meinem Leben eine neue und ungewohnte Standfestigkeit verlieh.

Sinnlichkeit

Dadurch, dass ich mich so intensiv mit meiner fehlenden Sinnlichkeit auseinandergesetzt hatte, wurde mein Blick ganz anders dafür geschärft, wenn ich dieses Muster bei anderen Menschen entdeckte. In meiner Arbeit als Physiotherapeutin erlebe ich häufig Menschen, denen auch ihr Gefühl für ihren Körper abhandengekommen ist. Mit Gesprächen und Wahrnehmungsübungen versuche ich, das Gefühl dafür wieder in ihnen zu wecken. Ein für mich sehr wichtiger Teil meiner Arbeit beinhaltet Therapien mit Frauen (und Männern), die Probleme im Bereich ihres Beckenbodens haben. Und dort erfüllt es mich mit einer ganz besonderen Freude, wenn es mir gelingt eine geschützte Atmosphäre zu schaffen, einen Raum zu geben, um über Tabu behaftete Themen zu reden. Mich zu öffnen, damit es der/dem Ratsuchenden leichter fällt zu reden. Ich möchte Hilfestellung geben, damit sie wieder anfangen, auf den eigenen Körper zu hören, ihn wahrzunehmen, Bedürfnisse zu erspüren.

Ich hole sie nicht ab. Das würde bedeuten, dass ich weiß, wo sie hin möchten. Ich besuche sie, wir schauen uns gemeinsam um und sie sagen, wo die Reise hingehen soll.

Und dann gehen wir gemeinsam los …

 

Bildnachweis für diesen Beitrag: Copyright Anita Wolbeck 2022

Anita Wolbeck

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