Der kleine Uhu

Autor: Andrea und Volker Siegert

Der Kleine Uhu

 

Grenzen erleben

Das Lied „Über den Wolken“ von Reinhardt May ertönte gerade im Radio, als ich vor einiger Zeit meinen Heimatort besuchte.

Mit Erschrecken sah ich, dass auf dem Nachbargrundstück der alte Baum gefällt wurde. Meine knorrige alte Tanne lag auf dem Boden, Kindheitserinnerungen kamen hoch. Sie war mein Zufluchtsort gewesen. In ihr kletterte ich über die dicht stehenden Zweige oftmals so hoch, dass ich weit über die Flussauen sehen konnte. So manche Sorge vertraute ich ihr an.

Am meisten aber genoss ich dort oben das Gefühl von grenzenloser Freiheit. Oft legte ich beim Herunterklettern das letzte Stück springend zurück. So testete ich Grenzen aus, bis ich eines Tages krachend auf dem Boden aufschlug. Zum Glück blieb ich unverletzt. Nie wieder wollte ich aus großer Höhe herunterspringen.

Wenige Wochen später schenkte mir mein Vater einen Fallschirm. In ihm glaubte ich die Lösung meiner Landungsprobleme aus luftiger Höhe zu erkennen. Ich kletterte auf das Flachdach unseres Holzschuppens, breitete den Fallschirm aus, nahm den längsten Anlauf, den die Dachfläche hergab und sprang vor den Augen meines Großvaters hinunter.

Ich erlebte ein kurzes unbeschreibliches Gefühl der Freiheit, welches den Ärger über meine Bruchlandung überwog.

 

Auftrieb spüren

Die Faszination des Fliegens war in mir entfacht. Mein größter Wunsch erfüllte sich an meinem nächsten Geburtstag. Ich bekam einen Bausatz für ein Segelflugzeug geschenkt. Sein Name war der „kleine Uhu“. Der Zusammenbau war eine Herausforderung, sodass mir mein Vater bei den schwierigen Passagen half. Es war unser erstes gemeinsames Projekt. Stolz war ich, mein erstes Flugzeug. Den Probeflug konnte ich kaum abwarten.

An einem Sonntag fuhr ich dann mit meinem Vater in die blühende Heide, um mein Flugzeug fliegen zu lassen. Wie sehr ich mich gefreut habe, nehme ich jetzt noch wahr. Mein Vater zeigte mir die Technik des Segelfliegens. „Du musst dich gegen den Wind stellen, die Nase des Flugzeugs nach unten drücken und werfen, etwa so“. So verging an diesem Nachmittag die Zeit mit Starts und Landungen des kleinen Flugzeugs. Mit jedem Start wurde meine Antriebstechnik besser, die Flugzeiten verlängerten sich. Großartig sah es aus! Mein Flugzeug schwebte durch die Luft.

Auf dieser Heidefläche wurde zu jener Zeit im großen Stil Sand für die Produktion von Kalksandsteine abgebaut. Diese Sandkuhle hatte eine Größe von mehreren Fußballfeldern und bohrte sich tief in die Landschaft hinein.

Immer dichter näherten wir uns mit unseren Flugversuchen der Abbruchkante der Grube.

„Komm, noch einmal“, sagte mein Vater „dann packen wir ein, es wird bald dunkel werden“. Meine ganze Kraft gab ich in den letzten Start hinein. Aus dem letzten Start sollte sich der schönste und längste Flug entwickeln.

Das Flugzeug glitt durch die Luft und näherte sich langsam dem Boden. Gleich würde es aufsetzen und der Flug zu Ende sein. Immer dichter kam es an den Rand der Sandkuhle. Kurz vor dem Aufsetzen wurde mein kleiner Flieger von einer Windbö erfasst und verschwand in der Kuhle, um einen Augenblick später wieder aufzutauchen.

Getragen von der Eigenthermik der Sandkuhle stieg mein „kleiner Uhu“ immer höher in den Himmel hinein, als ob es seine Freiheit genoss, an diesem schönen sonnigen Sommerabend.

 

Innehalten

Mein Vater und ich standen am Grubenrand und schauten uns plötzlich tief in die Augen. Was er wohl damals gedacht haben mag?  Und dann taten wir das einzig vernünftige in dieser Situation. Wir setzten uns an den Rand der Kuhle und schauten dem Flug des kleinen Uhus zu. Wir verloren jegliches Zeitgefühl.

Es gab nur das Flugzeug, meinen Vater und mich. Und ich genoss diesen Moment der Freiheit, in mir selbst. Wie lange der Flug dauerte, weiß ich nicht mehr, aber diesen Tag im Spätsommer werde ich nie vergessen.

Augenblicke lassen sich nicht festhalten, sie vergehen wie ein schöner Flug im Leben. Deshalb kann ich dir nicht raten, vom Dach zu springen. Aber ich kann dir raten, die Nase manchmal in den Wind zu halten. Die daraus entstehende Energie erzeugt unwahrscheinliche Kräfte für etwas Neues, für etwas Unvorstellbares, für etwas Einzigartiges.

Und wenn du magst, halt einfach mal inne und höre dir das Lied „Über den Wolken“ von Reinhard Mey an.

Autor: Volker Siegert

 

Bildnachweis für diesen Beitrag: Sonnenuntergang, Vater, Sohn. © rauschenberger (pixabay CC-0)

Andrea und Volker Siegert

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