Aufwind

Autor: Tanja Nößler

Der Herbst hat für viele Menschen etwas Bedrückendes an sich. Es erscheint so, als ob die Vergänglichkeit der Dinge offenbar wird. Das Wetter wird rauer, das Grün in der Natur verdorrt, die Blätter fallen von den Bäumen, die Tage werden kürzer und die Gedenktage kündigen sich an.

Als ich ein Kind war, habe ich den Herbst geliebt und ich erinnere mich genau an diese Zeit. Kinder sehen nicht das Vergängliche in dieser Jahreszeit, sondern gehen mit dem Wandel der Zeiten spielerisch um. Für sie ist alles nur Werden und die Zeit ist nach vorne ausgerichtet. So ist die Veränderung der Dinge für sie die Freude auf das Neue und damit auch die Freude auf neue Abenteuer. Im Herbst kann man bunte Blätter sammeln und durch Blätterberge schluffen. Im Herbst kann man Kastanienmännchen basteln und im Herbst kann man Flugdrachen steigen lassen.

Mit meinem Stiefvater habe ich als Kind meinen Drachen selbst gebaut und wir haben ihn gemeinsam steigen lassen. Es war immer eine große Herausforderung und wenn es gelang war es eine große Freude. Zuerst muss man die Windrichtung bestimmen, sodass man mit dem Rücken zum Wind steht. Dann legt man den Drachen vor sich hin und sobald ein Lüftchen aufkommt, kann man dem Drachen einen Schubs in den Himmel geben. Der Drache darf erst losgelassen werden, wenn er selbst an der Schnur zieht. Und dann weht er im Wind, die Richtung kann nicht vorgegeben werden, denn der Drache wird mitgerissen. Und man braucht einen festen Stand, denn man muss die Leine gut festhalten, damit der Drache nicht fortgeweht wird. Es ist anspruchsvoll und in dem Moment des Fliegenlassens ist man so darauf konzentriert, dass man an nichts anderes mehr denken kann. Man verschmilzt mit diesem Moment. Mit dem Aufwind zu spielen, ist ein Augenblick voller Spaß und Lebendigkeit.

Manchmal denke ich mir, dass man mit dem Leben umgehen sollte, wie mit einem Drachenflug. Wie oft haben wir Gegenwind im Leben und nehmen es schwer, da es auch oftmals schwer ist. Die Veränderungen im Leben können Angst machen, denn die Vergänglichkeit und das Älterwerden ist nicht immer nur von Leichtigkeit geprägt. Aber was wäre, wenn man trotz der Gegenwinde im Leben, mit der Zeit spielerisch umgehen könnte? So wie ein Kind, das einen Drachen steigen lässt.

Dann dreht man sich im Gegenwind einfach um und hat Rückenwind,
dann lässt man die Vergangenheit los, anstatt daran verzweifelt festzuhalten,
dann braucht man einen festen Stand, damit die Geschehnisse einem nicht die Füße wegreißen,
dann kann das Leben aufsteigen und mit dem Wind fliegen, ohne dass die Richtung vorgegeben werden muss,
dann lässt man das Leben an der langen Leine, aber hält es gut fest, damit es einem nicht entgleitet,
dann verschmilzt man mit jedem Moment des Lebens,
dann ist jeder Augenblick voller Spaß und Lebendigkeit
und dann kann aus dem Gegenwind des Lebens vielleicht ein Aufwind werden.

Ich denke, ich werde nach langer Zeit mal wieder einen Drachen steigen lassen, um in dieses Gefühl zu kommen.

 

Bildnachweis für diesen Beitrag: kind-junge-drache-drachenflug-wind-2887483 @ cocoparisienne (pixabay.com CC-0)

Tanja Nößler

Tanja Nößler


Mein Name ist Tatjana Tanja Nößler und ich wohne und arbeite im Ruhrgebiet. Als ehemalige Standesbeamtin, freie Predigerin und Puppenspielerin habe ich mich immer schon sehr intensiv mit zwischenmenschlichen Themen und dem Gefühlsleben beschäftigt. Seit einigen Jahren setze ich mich als Trauerbegleiterin und nebenberufliche Trauerrednerin auch mit der Endlichkeit des Lebens auseinander. Als Meditations- und Reiki-Lehrerin nach dem Dalmanuta Prinzip und Speakerin habe ich in meiner Freizeit den Podcast PleromaLife - LebensfreudeFülleLeichtigkeit gegründet, in dem ich über verschiedene Lebensthemen philosophiere.

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