Nah am Wasser

Autor: Bianca Von berg

‌Wenn der Mensch schnell weint, dem Menschen zügig die Unterlider unter Wasser stehen, dann ist er einer Redewendung nach „nah am Wasser gebaut“.

‌Auf der einen Seite beurteilt man diesen Menschen dann als sehr sensibel, sehr mitfühlend, Zertifikat „weiches Herz“ und andere Aussagen, die das „Nah am Wasser“ eher als was Positives beschreiben.

‌Auf der anderen Seite bist Du dann aber evtl. ein Weichei, eine Mimose, weich gespült, Heulsuse oder einfach schwach und weinerlich. Das ist die negative Darstellung.

‌Erlaubst Du es Dir, nah am Wasser gebaut zu sein?

Erlaubnis zum Weinen

‌Ich habe schon immer bei Filmen geweint.

Das ist mein Coming-out.

Ich weine, wenn Hachiko am Bahnhof auf seinen verstorbenen Professor wartet. Ich weine auch, wenn Little Foods Mama in „einem Land vor unserer Zeit“ stirbt oder Vada ihrem Freund Thomas J. in „My Girl“ die Brille geben will, während für diesen Jungen gerade die Beerdigungszeremonie gehalten wird.

‌Ja. Da rollen mir die Tränen, schon seit ich denken kann. ‌Das war’s aber auch. Denn ansonsten habe ich das nie zugelassen.

Weinen kam für mich nicht infrage. Ich durfte nicht. Als Kind nicht, als Jugendliche nicht. „Wie sieht das aus?“, war häufig die Aussage meiner Mutter.

‌Ich ging dazu über, Gefühle zu verpacken.

Gute Gefühle in Lachen und einem Überdreht-Sein und schlechte Gefühle ließen sich gut kompensieren und ausdrücken in zynischen oder sarkastischen Bemerkungen.

‌Ja. Und in die Musik habe ich sehr viel gelegt und verarbeitet. Ich spiele selbst, aber allein Musik zu verschlingen war mein Ventil und meine Zuflucht in diesem Bootcamp des Unterdrückens und Nicht-Auslebens dessen, was ist.

Weinen erleben und wachsen

‌Dann saß ich 2018 in einem Seminar. Schon nach der ersten Übung war ich völlig erschrocken, wie sehr ich weinen kann.

Ich lernte an dem Wochenende in Schillig sogar gleich beide Richtungen kennen. Ich weinte aus tiefstem Schmerz, aber auch aus größter Erleichterung. Das war ein Erlebnis. Ich war um etwas bereichert, was mir in der Kindheit schon aberkannt wurde.

‌Heute, mit fast 46, kann ich es zeigen. Tiefstes Berührtsein, bis die Tränen kommen. Ich weine immer noch, wenn Filme, wie oben genannt, laufen. Aber nicht heimlich. Mir kommen die Tränen vor Freude und Überwältigt-Sein. Ich zeige, wenn ich trauere.

‌Seit nun sechs Jahren bin ich ein vollständiger Mensch.

Du darfst und vielleicht musst Du sogar ALLES leben.

Die Dunkelheit – Das Licht

Das Leid – Das Glück

Den Ärger – Die Freude

Den Abschied – Den Neubeginn

‌Und wenn Du in diesen Phasen und Wechseln der Ereignisse weinen musst, dann bist Du nicht weichgespült, Du bist keine Mimose oder schwach. ‌Wenn Du Dich „nah am Wasser“ zeigst, dann bist Du stark, dann bist Du ganz, dann bist Du vollkommen. ????

‌Trau Dich, geh raus, sei echt.

Bildnachweis: Eigene Aufnahme von Bianca von Berg

Keine Beiträge mehr verpassen